Die Beziehung zu meiner behinderten Tochter

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val
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Die Beziehung zu meiner behinderten Tochter

Beitrag von val »

Hallo zusammen

Wie einige von Euch wohl mitbekommen habt, habe ich eine geistig behinderte Tochter. Sie ist nun 11 Jahre alt. Ihre Behinderung hat keine Diagnose, also kein Down-Syndrom oder sonst etwas, das einen Namen hat. Was für eine geistige Behinderung nicht ungewöhnlich ist. Sie kann nicht lesen, nicht schreiben, ihre Sprache ist sehr rudimentär. Ihre Wahrnehmung ist eine andere, sie hat Mühe, die Reize zu sortieren. Und trotz allem versucht sie sich irgendwie zurechtzufinden in unserer Welt. Starke kleine Frau.

Sie hängt unheimlich an mir. Und ich auch an ihr. Ich versuche alles zu tun, um es ihr leichter zu machen, ihr Selbstvertrauen zu geben, damit sie sich in ihrem Tempo und ihren Fähigkeiten entsprechend entfalten kann.

Im Alltag ist es oft nicht einfach, ihre Stimmungen wechseln oft schlagartig, ein falsches Wort und sie verschwindet türeknallend und Verwünschungen ausstossend in ihrem Zimmer. Manchmal braucht es drei oder vier Anläufe, bis sie wieder runterkommt. Zusammen essen ist oft unmöglich. Oft nervt sie ihre Brüder wahnsinnig und ich versuche zu schlichten. Und oft haben wir Diskussionen, warum sie anders behandelt wird und für sie nicht die gleichen Regeln gelten. Auch wenn ihre Brüder verstehen, dass sie anders ist, ist es oft einfach schwierig.

Ich sah sie immer auch als ein Geschenk, sie ist ein ganz besonderes Kind mit einer unheimlichen Feinfühligkeit und Warmherzigkeit. Ihre Brüder, ihr Vater und vor allem auch ihr Grosi lieben sie sehr und sie wächst in einem sehr wohlwollenden Umfeld auf.

Nun war sie eine Woche im Skilager. Die Zeit davor war sehr schwierig, sie konnte es kaum erwarten, bis sie gehen konnte und war unheimlich angespannt. Freude wechselte mit Unsicherheit und oft schwankte sie hin und her vom einen Moment auf den andern. Natürlich kennen wir das und es ist nichts neues, aber es braucht Kraft und Nerven.

Als sie weg war, fiel ich irgendwie in ein Loch. Ich hatte plötzlich so viel freie Zeit und war so ungebunden, dass ich kaum wusste was mit mir anfangen. Es tat mir so gut, am Abend nicht dauernd belagert zu werden, ich hatte nicht erst Feierabend, wenn alle im Bett waren. Konnte in Ruhe eine Zeitung lesen. Musste von der Arbeit nicht nach Hause rennen, weil sie von der Schule heimkommt. Konnte in den Turnverein gehen ohne schlechtes Gewissen. Sie mag es gar nicht, wenn ich am Abend weggehe. Sie lässt es zwar zu, wartet aber bis ich nach Hause komme, koste es was es wolle, auch wenn sie am Fenster sitzend einschläft.

Ich hatte ein paar Tage Luft. Raum und Ruhe um zu atmen. Sowas wie ein Zipfel eigenes Leben. Natürlich waren da ihre Brüder, aber diese brauchen mich nicht mit dieser Absolutheit wie meine Tochter.

Ich wollte diese Gedanken alle nicht haben, denn ich liebe meine Tochter doch über alles und ich nehme es doch gerne auf mich, dass sie mehr Zuwendung und Nähe braucht als ihre Brüder (die in der Pubertät und auch nicht ohne sind im Moment). Aber die Last, die ich auf meinen Schultern trage ist enorm. Das äusserte sich diese Woche auch prompt durch total verspannte Muskeln, meine Schultern und mein Nacken waren wie ein Brett und mein Kopf wollte zerspringen. Eine ziemlich deutliche Botschaft.

Und diese Botschaft möchte ich lieber nicht hören. Ich schäme mich für meine Gedanken und meine Gefühle. Meine Tochter hat es doch so viel schwerer im Leben als ich und sie gibt sich trotz allem solche Mühe. Und ich jammere. Ich, die ich kein Handicap habe und ein leistungsfähiges Mitglied unserer Gesellschaft bin.

Diese Situation macht mich traurig. Ich weiss nicht, wie ich mich dem stellen soll. Als ich sie gestern abholte, fühlte ich mich nicht wohl. Und ich weiss, dass sie das spürt. Sie spürt alles. Ihren Antennen entgeht nichts. Ich will doch hinter ihr stehen. Bedingungslos. Sie nicht im Stich lassen. Und doch spüre ich, wie sie mir irgendwie die Luft abdrückt.

Hat jemand einen Rat für mich?

Liebe Grüsse
Val
Alleinerziehend mit Partner. Kinder 19/19 und 16
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tarzan
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Beitrag von tarzan »

Liebe val

Zuerst will ich dir ein Lob aussprechen. Deine Situation ist nicht einfach und toll wie du das meisterst.

Ich fragte mich, gibt es da nicht eine Entlastung für dich ? Externe Hilfe, welche dich entlasten kann ?
15 Jahre Patchworkerfahrung
Anita

Beitrag von Anita »

liebe val

einmal mehr bin auch ich von deinen zeilen beeindruckt.
ich finde deine gefühle total legitim und authentisch...einfach normal...das gefühl, dass dich gerade plagt ist eines, dass mit deinen energien zu tun hat...und es hat meiner meinung nach platz, neben dem gefühl von tiefer zuneigung und liebe, dass du ja auch beschreibst und das deine tochter ja auch spürt!
kinder haben an uns eltern nicht die erwartung, dass wir unerschöpflich sind. diese erwartung haben "nur" wir an uns, weil "man" in der gesellschaft irgendwie perfekt sein sollte als mutter.
der realität entspricht das aber nicht - wir mütter wissen das doch. wir alle wissen es. nur sprechen wir viel zu wenig darüber....wir neigen dazu "perfekt" zu wirken :roll:

würden mehr von uns offen darüber sprechen - so wie du - wäre wohl so manch ein mami entlastet von diesem druck :wink:

alles liebe val - geniesse deine freiräume, schaffe sie dir und stehe dazu, dass sie dir gut tun....deine tochter wird damit umgehen können - bestimmt!
anita
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BabyOne
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Beitrag von BabyOne »

Hallo val,

ich glaube, ähnlich geht es Menschen, die ältere Angehörige pflegen. Da ist jemand, zu dem man gut sein will, man weiß er oder sie braucht einen, und trotzdem kann man ihn beim besten Willen nicht immer gut ertragen.

Einen Rat kann ich Dir nicht geben, aber ich finde Du darfst Dir ruhig zugestehen dass das was Du leistest viel ist und dass es manchmal vielleicht auch ein klein wenig über Deine Kräfte geht. Das würde jedem so gehen. Hab Verständnis für Dich selber, Du hast es auch verdient.
Patch von 2002/2003 bis 2017
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carlotta37
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Beitrag von carlotta37 »

Liebe val,

es kann wohl kaum einer von uns wirklich nachvollziehen, wie besonders und anders die Beziehung zu einem behinderten Kind ist!
Aber was Du schreibst, erinnert mich sehr stark an Erlebnisse, die auch die Mutter meines (inzwischen erwachsenen) Götti-Kindes geschildert hat: ihr Sohn hat Down-Syndrom.
Auch diese Kinder lösen sich, auch sie kommen in die Pubertät, aber all diese Konflikte äussern sich anders als bei "gesunden" Kindern. Und vor allem ist eine verbale Auseinandersetzung nur sehr eingeschränkt möglich!

Ab einem gewissen Alter ging dieser Junge in ein Internat und kam am Wochenende heim. Es ging auch nicht anders, sie leben sehr ländlich. Aber die Schule war dann (ab 16, glaube ich) vor allem auf das Erlernen von Selbständigkeit im Alltag ausgerichtet und auf Ablösung von der Mutter. Die hat stattgefunden was die Selbständigkeit betrifft: er kann sehr, sehr vieles allein und ist stolz darauf. Alles ist sehr ritualisiert, aber im Rahmen des Bekannten und Vertrauten läuft es sehr gut. Er arbeitet in einer geschützten Werkstatt, singt in einem Chor (übrigens ist er dort der einzige Behinderte und wird gut integriert), geht zum Sport mit anderen Behinderten und verbringt viel Freizeit mit den Eltern: Ausflüge, Ski fahren, Reisen. Er wohnt auch wieder bei ihnen, kann sich aber innerhalb der gemeinsamen Wohnung allein versorgen: sogar kochen, wenn man es ihm aufschreibt und alles was ihn selber betrifft wie Zimmer putzen, Körperpflege etc., kleine Einkäufe machen, allein früh aufstehen, den Weg zur Arbeit. Das alles hätte noch mit 14 niemand gedacht, dass er das jemals lernen kann!

Die Mutter (sie hat noch drei ältere Kinder) war zeitweise auch an der Grenze der Belastbarkeit und hatte ganz ähnliche Gefühle im Bezug auf das Internat damals. Aber mit der Ablösung und zunehmenden Selbständigkeit änderte sich das wieder: die zwei haben ein sehr inniges Verhältnis (so sehr, dass ich sie macnhmal fast beneide... :oops: ), auch das zum Vater ist gut (der arbeitet aber noch viel). Und dennoch hat die Mutter heute den Freiraum, ein eigenes Leben zu leben und gönnt sich das auch.

Ich denke, was Du erlebst, ist ein normaler Prozess, der eben nur bei einem Kind mit speziellen Bedürfnissen schwieriger einzuordnen ist. Vielleicht hilft Dir der Austausch mit Eltern in ähnlicher Situation? Kennst Du andere Eltern von der Schule Deiner Tochter?

Und wie tarzan würde ich Dir raten, eine Entlastung zu suchen! Du leistest sehr viel, mit 3 Kindern, Job und Haus - das ist bewundernswert!! Entlasung kann vieles sein, vergiss nicht Dir selber abundzu etwas Gutes zu tun, alle drei Kinder werden es verstehen, auch wenn es das Mädchen weniger ausdrücken kann!
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Ria
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Beitrag von Ria »

Liebe val

Deine Gefühle sind völlig normal. Gerade weil dich deine Tochter besonders intensiv braucht, ist die Verbindung auch besonders.

Und gleichzeitig willst du ja, dass sie möglichst selbständig wird, was auch mit Loslassen zu tun hat.
Und mit der Teilnahme am Skilager zeigt sie auch, dass sie hier bereit ist, Schritte zu tun und sogar Freude dabei haben kann.

Was wir alle Mütter auch mehr oder weniger kennen: Es ist gar nicht so einfach, ohne schlechtes Gewissen sich den Raum und die Zeit zu nehmen, um sich zu erholen. Und da gilt einfach: Deine Tochter profitiert - neben den anderen um dich - auch davon, wenn du gesund und glücklich bist. Vielleicht hilft dir dieser Gedanken, dass du es auch für sie tust ein wenig, um dir diese Freiräume zu erlauben. Ich wünsche es dir.

Einen guten Start in eine gelingende Woche
Seit 27 Jahren Patchworkfamilienfrau und Coach für solche :-)
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Edelweiss
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Beitrag von Edelweiss »

Hallo Val

Deine Worte berühren mich. Sie sind ganz normal. Sie sind nachvollziehbar.

Ich selbst habe in einer Geschützten Werkstätte mit angeschlossenen Wohnheimen für geistig und körperbehinderten Menschen gearbeitet. Aus diesem Umfeld kenne ich deine Gedanken sehr gut.

Mit deiner gesundheitlichen Geschichte, wäre es aber nur von Vorteil wen du dir deine Auszeiten ohne schlechtes Gewissen nimmst, denn nur dann kannst Du dich wirklich "erholen" und geniessen. Ich weiss es ist sehr schwierig, was ich aus meinem Leben weiss. Jemand der immer zuerst zu anderen schaut und erst dann zu sich, wenn überhaupt noch was übrig bleibt. Hat mit solchen Zeiten sehr Mühe. Ich kämpfe seit Jahren für diese Momente ohne Hintergedanken. Aber es klappt nicht immer.

Für ihre Selbständigkeit oder auch nur Selbstwertgefühl aufzubauen, wäre es viellicht von Vorteil wenn sie abundzu solche Wochen verbringen könnte. Aber dir hilft's nur, wenn du die freie Zeit auch "frei" geniessen kannst.
berufstätige (80%) Mutter zweier Jungs (9 und 12)
val
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Beitrag von val »

Hallo

Danke für Euer Feedback. Dass Ihr das, was ich fühle, normal findet, tut mir schon mal sehr gut. Bitte lobt mich nicht so sehr, ich leiste nicht mehr als Ihr! Aber wohl tut's natürlich schon....

Entlastung zu finden ist nicht so einfach, am meisten hilft mir meine Mutter, zu der meine Tochter regelmässig in den Schulferien darf. Nun hat mir meine Mutter mitgeteilt, dass sie sich endlich die Hüfte operieren lässt. Ist schon lange überfällig und ich bin froh, hat sie sich endlich durchgerungen, die Operation zu machen, aber für mich bedeutet dies natürlich das mindestens die nächsten Ferien für meine Tochter ins Wasser fallen.

Aber vielleicht ist das genau gut so. Denn ich muss lernen, mich auch meiner Tochter gegenüber abzugrenzen. Raum für mich zu schaffen, mich wichtig zu nehmen und mich nicht immer hinten anzustellen. Auch meiner Tochter gegenüber schlechte Gefühle zuzulassen. Denn das ist wohl der Kern des Ganzen.

@carlotta
ich denke auch, dass für mich und meine Tochter eine Lösung wie Du sie von Deinem Göttibuben beschreibst, wohl das beste wäre. Für uns beide. Doch noch gibt es keine Institution für sie, noch ist sie zu klein. Noch wird erwartet, dass sie im Elternhaus lebt, die Lösungen mit Internat oder Wochenunterkunft kommen erst später, wenn die ordentliche Schule fertig ist. Wäre sie viel stärker behindert und auch körperlich handicapiert, sähe es anders aus. Aber so schlimm ist es gottseidank nicht.

Ich danke Euch sehr für Eure Denkanstösse, das hilft mir echt weiter.

Liebe Grüsse
Val
Alleinerziehend mit Partner. Kinder 19/19 und 16
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