Darüber rege ich mich auf...
Verfasst: 10.09.2011 13:20
Gestern im Tages-Anzeiger:
Die Frage stellt sich, wie es ein solches Buch schafft, im Tages-Anzeiger erwähnt zu werden.
Wogegen zieht Frau Mühl wirklich in die Schlacht?
Tatsache ist, dass die Patchworkfamilie keine neue Idee ist, geschweige, dass sie als Alternative zur Erstfamilie gefeiert wird.
Wie so viele verkennt auch Frau Mühl, dass diese Familienform nach einer meist schmerzhaften Trennung und Zeit als Einelternfamilie aus dem tiefen Wunsch eines Elternteils entsteht, wieder eine verbindliche Beziehung zu leben und damit auch den Kindern die Möglichkeit zu bieten, wieder Familie leben und zu sehen, dass gelingende Partnerschaft doch funktionieren kann.
Dies ist eine grosse Herausforderung für alle Beteiligten, das stimmt. Und sie kann gelingen. Als Patchworkfrau und -Coach und sehe ich immer wieder, dass genau solche Sichtweisen, wie sie Frau Mühl vertritt, den Patchworkfamilien das Leben noch schwerer machen. Schade, denn gerade für Kinder kann diese Möglichkeit ein grosser Gewinn sein.
Diesen Leserbrief habe ich heute abgeschickt. Ich bin ja gespannt, ob er abgedruckt wird. Aber ich kann so einen Blödsinn nicht kommentarlos stehen lassen. Was meint ihr dazu?
Patchwork bleibt Flickwerk – die Leidtragenden sind die Kinder
Von Marion Lühe
Nach der Scheidung geht es bunt und munter in neuer Kombination weiter? Eine Illusion, sagt Melanie Mühl.
Nicht nur in den grossen Metropolen, auch auf dem Land gehört sie längst zur Normalität: die Patchworkfamilie. Ob Filme, Fernsehserien oder die Boulevardpresse – die Medien feiern das Patchworkmodell als neue Idee von Familie, die sich von Muff und allen Zwängen befreit hat. Boris und Lily Becker, Til und Dana Schweiger, Madonna und Guy Ritchie, Bruce Willis und Demi Moore werden als prominente Beispiele dafür angeführt, wie gut das funktionieren kann.
Alle haben sich lieb, Geburtstage werden im Kreis der ständig wachsenden Nachscheidungsfamilie gefeiert, von Beziehungsstress oder Problemen mit den neuen Stiefeltern und -geschwistern keine Spur. Das Bild der bösen Stiefmutter ist dem der guten Freundin gewichen, die den Kindern ihres neuen Partners mit wohlwollender Zuneigung begegnet. Wie aber sieht die Wirklichkeit hinter diesem medial inszenierten Familienglück aus?
Die Journalistin Melanie Mühl hinterfragt in ihrem neuen Buch kritisch unsere durch bunte Medienbilder erzeugte Vorstellung von der heilen Patchworkwelt. Nicht nur weil diese keineswegs der Realität entspricht, sondern weil sie unsere Wahrnehmung von Gesellschaft und Familie nachdrücklich prägt. Wenn das vermeintliche Patchworkidyll in Fernsehsoaps nur lange genug als Normalzustand dargestellt wird, erscheint die traditionelle Familie irgendwann als überholtes Modell. Wer macht sich noch die Mühe, familiäre Konflikte zu lösen und für die Ehe zu kämpfen, wenn es doch viel verlockender ist, ein neues Leben mit einem neuen Partner zu beginnen?
Der Selbstoptimierungsdruck, dem sich viele Menschen heute bei der Arbeit und beim Konsum ausgesetzt fühlen, hat unmerklich auf die bislang geschützte Sphäre der Familie übergegriffen. Längst ist auch das Privatleben von der allgegenwärtigen Ökonomisierung durchdrungen. Gibt es vielleicht einen günstigeren Stromanbieter, einen passenderen Arbeitsplatz oder Partner? Wartet nicht ein besseres Leben auf uns? Für Schwäche, Durchschnittlichkeit und Verletzlichkeit bleibt da kein Raum.
Die Leidtragenden einer um sich greifenden «Anything goes»-Mentalität, das macht Mühl deutlich, sind die Kinder. Familiäre Defizite werden oftmals durch Förderungswut ausgeglichen, mangelnde Nähe durch Konsum. «Wohlstandsverwahrloste» nennt Mühl solche Kinder, die es – nebenbei bemerkt – ja durchaus auch in traditionellen Familien gibt. In klarer, nüchterner Sprache schildert die Autorin Einzelschicksale und entzaubert so den Mythos von der «sauberen Scheidung» und von glücklichen Scheidungskindern. Eine Scheidung, möge sie auch noch so einvernehmlich abgewickelt werden, sei eine Tragödie für die Kinder, die neben dem Glauben an Familie und Liebe auch die Fähigkeit verlören, an etwas festzuhalten. Früh verinnerlichten sie die «Folie des Scheiterns», übernähmen häufig die Verantwortung für die Gefühle ihrer Eltern und wüssten nicht, wie sich Zusammengehörigkeit anfühlt.
Kein Modell für die Gesellschaft
Das Pendeln zwischen Vater und Mutter fordert regelmässiges Abschiednehmen, und das Weihnachtsfest stürzt sie jedes Jahr wieder in einen Konflikt. Allmählich entfremden sie sich dem Elternteil, der sie verlassen hat, und kämpfen dafür ihr Leben lang mit schlechtem Gewissen. Als Erwachsene, das zeigen Langzeitstudien, erkranken sie doppelt so oft an Depression wie der Durchschnitt und sind eher bereit, ihre eigenen Beziehungen aufzugeben. Wenn Liebe erlernt werden muss, wie der Psychoanalytiker Erich Fromm gelehrt hat, so fehlt Scheidungskindern das elterliche Vorbild, wie zwei Menschen miteinander alt werden – mit allem Streit und Elend, der auch dazugehört.
Wohlgemerkt: Mühl plädiert nicht dafür, für ein fragwürdiges Kindeswohl lebenslang in zerstörerischen, von Gewalt geprägten Beziehungen auszuharren. Sie behauptet auch nicht, dass Scheidung immer in der Katastrophe für die Beteiligten enden muss. Sie führt aber deutlich vor Augen, dass Patchwork kein gesellschaftliches Modell ist, sondern, wie der Name sagt: Flickwerk.
Man mag der Autorin künstliche Dramatisierung vorwerfen, wenn sie am Schluss des Buches das Zukunftsszenario einer Gesellschaft einsam dahinvegetierender Egomanen und Narzissten entwirft – doch Übertreibung gehört nun einmal zum Wesen einer leidenschaftlichen Streitschrift wie dieser dazu. Wer sie gelesen hat, wird die schöne neue Familienwelt, die uns täglich präsentiert wird, mit anderen Augen sehen.
Melanie Mühl: Die Patchworklüge. Hanser, München 2011. 171 S., etwa 24 Fr.
Die Frage stellt sich, wie es ein solches Buch schafft, im Tages-Anzeiger erwähnt zu werden.
Wogegen zieht Frau Mühl wirklich in die Schlacht?
Tatsache ist, dass die Patchworkfamilie keine neue Idee ist, geschweige, dass sie als Alternative zur Erstfamilie gefeiert wird.
Wie so viele verkennt auch Frau Mühl, dass diese Familienform nach einer meist schmerzhaften Trennung und Zeit als Einelternfamilie aus dem tiefen Wunsch eines Elternteils entsteht, wieder eine verbindliche Beziehung zu leben und damit auch den Kindern die Möglichkeit zu bieten, wieder Familie leben und zu sehen, dass gelingende Partnerschaft doch funktionieren kann.
Dies ist eine grosse Herausforderung für alle Beteiligten, das stimmt. Und sie kann gelingen. Als Patchworkfrau und -Coach und sehe ich immer wieder, dass genau solche Sichtweisen, wie sie Frau Mühl vertritt, den Patchworkfamilien das Leben noch schwerer machen. Schade, denn gerade für Kinder kann diese Möglichkeit ein grosser Gewinn sein.
Diesen Leserbrief habe ich heute abgeschickt. Ich bin ja gespannt, ob er abgedruckt wird. Aber ich kann so einen Blödsinn nicht kommentarlos stehen lassen. Was meint ihr dazu?