Stiefkinder lieben?

 


Kathrin Wittwer auf urbia.de


Liebe, Verantwortungsgefühl, Konfliktfähigkeit und den Willen zu persönlicher Entwicklung: Das braucht es laut Familienexperte Jesper Juul für eine gute Beziehung zu Stiefkindern. Aber wie kommt man dahin? Lohnt sich diese Anstrengung für fremde Kinder überhaupt?

Wer braucht eigentlich Bonuskinder?

„Bonuskinder braucht kein Mensch.“ Mit dieser Provokation eröffnete urbia-Nutzerin „armela“ im Forum eine Diskussion um die Frage: Wozu sind Stiefkinder – oder, wie Jesper Juul sie bezeichnet, „Bonuskinder“ – gut? Viele ehrliche Antworten reichten von „Es gab schon Zeiten wo ich mir wünschte, sie wären nicht da.“ bis zu „Ich bin froh, dass das jetzt lange hinter mir liegt und ich vermisse sie null!“ Braucht man Stiefkinder also wirklich nicht?

Frau Stiefkinder

Stiefkinder muss man weder brauchen noch lieben

„Diese Frage stellt sich so gar nicht“, meint Mathias Voelchert, Gründer und Leiter von familylab Deutschland, einem Zweig von Jesper Juuls Beratungs-Netzwerk: „In Trennungsfamilien sind Stiefkinder einfach Realität. Ob sie jemand braucht oder nicht – sie sind da. Natürlich muss ich diese Kinder nicht von Anfang an als Bonus erleben oder toll finden. Liebe kann man nicht befehlen, sie kann sich nur entwickeln. Meistens erlebe ich die fremden Kinder sogar erst einmal als Riesenbelastung.“ Die entscheidende Frage sei nicht, ob man sie braucht, sondern: „Wie verhalte ich mich zu ihnen?“ Das wiederum ist ein Lernprozess, dem der Experte elementare Bedeutung beimisst: „Familien sind dann wertvoll für die Beteiligten, wenn sie keine Harmonie-, sondern Wachstumsveranstaltungen sind. Dann führen sie weiter und werden als sinnvoll und stärkend erlebt. Bonuskinder ermöglichen genau das. Sie bringen die eigenen Engen und Weiten zum Blühen, weil sie dazu herausfordern, persönliche Wachstumsschritte zu machen.“

Schwer zu verdauen: Clash der Kulturen

Zum Beispiel dabei, mit höchst unterschiedlichen Wertvorstellungen zurechtzukommen: „Wenn bei einem Paar zwei Menschen aus verschiedenen Familienkulturen zusammentreffen, die sich gleichzeitig anziehen und abstoßen, dann ist das noch einigermaßen schluckbar und verdaubar bei dem Menschen, in den ich mich verliebt habe. Aber in Stieffamilien gibt es eben auch die Kinder, in die ich mich nicht verliebt habe“, so Mathias Voelchert. Heißt: Da fehlt die rosa Brille, die den Differenzen die scharfen Kanten nimmt. „Unterschiedliche Verhaltensweisen machen sich in so einem Gefüge viel stärker bemerkbar“, weiß auch die Familientherapeutin Prof. Verena Krähenbühl, die sich schon seit fast 30 Jahren mit Stieffamilien beschäftigt. Erschwerend kommt aus ihrer Sicht hinzu, dass Stieffamilien vergleichsweise plötzlich zusammen finden: „Das heißt, sie haben meist nur eine kurze Zeit des Kennenlernens und es sind von Anfang an Kinder zu versorgen. Da bleibt kaum Zeit für das Paar, erst gemeinsame Normen aufzubauen.“ Obendrein kämpfen viele mit Streitigkeiten mit früheren Partnern, mit Wut oder Ablehnung der Stiefkinder, mit den eigenen Ängsten und Unsicherheiten.

Null Normen fürs Patchworken: Schwierigkeit und Freiheit zugleich

Während Stieffamilien aber in der Vergangenheit trotz all dieser Hürden mehr oder weniger erfolgreich versuchten, sofort wie eine „normale“ Kernfamilie zu leben, beobachtet Prof. Krähenbühl, dass heute ein größeres Bewusstsein für die Andersartigkeit ihre Konstellation da ist und dies auch mehr gelebt wird. „Ich finde hierfür den Ansatz des Soziologen Klaus Hurrelmann sehr glücklich. Der sagt, eine Stieffamilie ist nicht festgelegt auf Bilder und Vorschreibungen, wie wir sie aus der Kernfamilie kennen. Dadurch hat sie eine große Freiheit in der Beziehungsgestaltung, sie kann etwas ganz Neues schaffen. Davon bin auch ich überzeugt – wenn Familien dieses Potential nutzen. Und sie nutzen es am besten mit reden, mit viel Zeit füreinander haben, mit Konflikte austragen, mit Offenheit und unbedingt mit Achtung und Eingehen auf die Bedürfnisse der Kinder.“

Kleine Brötchen backen: Wer zuletzt kommt, malt zuletzt

Damit kann man gar nicht früh genug anfangen: „Es kommt sehr darauf an, wie ich in eine Familie reinkomme“, ist Mathias Voelchert überzeugt. „Ich muss wissen, dass ich als Bonusmutter oder Bonusvater kleine Brötchen backen muss. Erst mal muss ich mich vorstellen, sagen, dass ich weiß, dass wir uns erst kennenlernen und schauen müssen, wie wir miteinander auskommen, dass ich erst zeigen muss, was ich für ein Mensch bin.“ Und es gehört dazu, die eigene Position klar zu sehen: „Ich muss unbedingt auf die natürliche Rangfolge achten. Erst waren da Vater und Mutter, dann die Kinder, dann die Trennung, Mutter und Kinder allein, den Vater gibt es immer noch, und jetzt erst komme ich. In dieser Reihenfolge geht die Loyalität und die Herzensbeziehung.“

Die größten Fallen: Übermutter und Oberhaupt sein wollen

Das klingt banal, wird aber oft vergessen, sorgt für Misstöne und erschwert damit das Zusammenfinden. So hat Prof. Krähenbühl beobachtet, dass die größte Falle, in die frischgebackene Stiefmütter tappen, Übermutter-Bestrebungen sind, oft geleitet von Mitleid für die Kinder, aber auch vom gesellschaftlichen Ideal von Müttern oder vielleicht sogar aus Angst vor dem Klischee der bösen Stiefmutter. „Es ist aber wichtig, dass die Stiefmutter nicht versucht, so auf die Kinder einzuwirken und ihnen die Mutter ersetzen zu wollen“, rät die Therapeutin. „Das ist gar nicht möglich, und Kinder erleben solche Überfürsorglichkeit nicht als Liebe, sondern als Druck.“

Die größte Falle der Stiefväter lautet hingegen: sich sofort als Oberhaupt zu positionieren. „Ich darf aber nicht in die Familie kommen und sagen: So, alles hört auf mein Kommando, auch dann nicht, wenn ich die finanzielle Macht habe“, macht Mathias Voelchert deutlich. „Ich muss mir im Klaren darüber sein, dass ich kein Recht auf die Kinder und ihre Erziehung habe. Dieses Vertrauen, mir etwas erlauben zu können, den Kindern etwas Wertvolles zu sagen zu haben, das muss ich als neu Dazugekommener verdienen.“ Vielleicht wird man einmal als neutrale Person ein guter Ansprechpartner, wenn Mama und Papa sich streiten. Vielleicht erlebt man mit diesen Kindern, was bisher aufgrund eigener Kinderlosigkeit verwehrt blieb, und vielleicht ist es schön für Kinder zu erleben, dass sie damit etwas sehr Bereicherndes zu geben haben. Aber es kann Jahre dauern, das herauszufinden.

Individualität zulassen: Mein Weg muss nicht der richtige für alle sein

Zurückhaltung ist laut Voelchert aber nicht nur aufgrund der Position als Neue(r) angebracht: „Wer als Bonus-Elternteil in ein Familiensystem kommt, muss sich von gewissen Vorstellungen verabschieden. Nämlich davon, dass Kinder nur dann gut sind, wenn sie sind wie man selbst. Und ebenso von der Idee: So wie ich es mache, ist es für alle richtig. Ich kann eine Partnerin haben, die es ganz anders macht. Wenn mich das stört, dann muss ich die Anpassungsleistung erbringen, damit umzugehen.“ Und nicht die Kinder. „Schon gar nicht sollte ein kindliches Verhalten, mit dem man als Stiefelternteil Probleme hat, direkt mit den Kindern statt mit dem Partner ausgetragen werden“, ergänzt Prof. Krähenbühl. Denn tadelt beispielsweise der neue Stiefvater ein bestimmtes Benehmen der Kinder, das bisher völlig legitim war, „ziehen sich die Kinder entweder zurück oder sie sagen ganz richtig: Du hast mir gar nichts zu sagen. Ihre Mutter muss dann dazu Position beziehen." Das heißt im Normalfall: ihre Kinder verteidigen. „Der Stiefvater ist meist von Kritik gekränkt und gerät in einen Teufelskreis, indem er sich noch mehr anstrengt oder sich zurückzieht, was das Problem verschärft und im schlimmsten Fall zu Konflikten zwischen dem Paar führt.“

Offenheit schafft Chancen: Was ist, sollte gesagt werden dürfen

Was passiert aber, wenn sich trotz aller Mühen und guten Willens keine Sympathien einstellen? „Dann sagt man sich das auf eine nicht verletzende Art, zum Beispiel dass ich mit meiner Frau zusammen und nicht dazu verdonnert bin, ihre Kinder gut zu finden. Solche Wahrheiten spüren sowieso alle, da ist es gut und sinnvoll, sie auch auszusprechen“, sagt Mathias Voelchert. Aber hat die Beziehung dann noch eine Chance? „Dann erst hat sie überhaupt eine Chance! Wahre Aussagen sind nicht schmeichelhaft, aber auf ihnen lässt sich aufbauen. Wenn gesagt werden darf, was wahr ist, ist das ein gutes Zeichen für die Familie und die Beziehungsqualität.“

Das Missverständnis: Liebe ist nicht Harmonie

Zumal solche scheinbaren Gegensätzlichkeiten nicht zwingend bedeuten, dass keine Liebe in der Familie herrscht, meint Voelchert: „Liebe ist nicht immer freundlich und herzlich, sondern Liebe sind oft heiße Auseinandersetzungen und Streits. Denn zu Liebe gehört nach meiner Erfahrung, dass man wissen will, was der andere für ein Mensch ist. Dass man seine eigenen Positionen klar macht und hört, was der der andere für Positionen hat.“

Familienrat: wichtiger Platz zum Reden

Einen guten Rahmen für einen konstruktiven Austausch bietet vor allem ein regelmäßiger Familienrat. „Der Rat ist ein Platz, wo jeder von sich selbst erzählen kann, was ihn bewegt, wo ich mich so von Druck befreie und mir keine Kommentare anhören muss. Es geht hier nicht darum, dass alles geheilt wird. Sondern nur darum, dass ein Platz da ist, wo ich von mir und meinen Gefühlen erzählen kann.“

Stiefkinder signalisieren, wenn etwas nicht stimmt

Schafft es eine Familie nicht, solche notwendigen Freiheiten zu entwickeln, werden die Kinder darauf aufmerksam machen, weiß Prof. Krähenbühl: „Stiefkinder sind Symptomträger. Wir haben es in der Beratung oft mit Leistungsverweigerung zu tun, mit Depressionen bei Mädchen, mit Einnässen, einfach mit Symptomen, die deutlich machen, in unserer Familie ist ein Problem.“ Unterstützung bieten Erziehungsberatungsstellen oder Familientherapeuten (Kosten: abhängig von Kassenzulassung) oder auch Familienberater wie familylab-TrainerInnen (Kosten: zwischen 40 – 100 Euro pro Stunde).

Jedes Kind kann eine Bereicherung sein – wenn man bereit dafür ist

Lernen, sich reiben, entwickeln, um zusammen zu finden: Das ist anstrengend. Der Lohn ist die Bereicherung, die Kinder in das Leben von Erwachsenen bringen, stimmt Prof. Krähenbühl mit Mathias Voelchert überein: „Jedes Kind bedeutet einen ganz neuen Beziehungsreichtum. Für Stiefmütter und Stiefväter kann hier zum Beispiel eine wunderbare Ebene von Freundschaft entstehen.“ Aber es verlangt eine grundsätzliche Bereitschaft, die damit verbundene Herausforderung wirklich anzunehmen, betont die Therapeutin: „Gleich zu Beginn einer neuen Partnerschaft ist es für denjenigen, der in eine Familie mit Kindern neu hineinkommt, sehr wichtig, sich sehr klar darüber zu sein, dass es den Partner nur im Paket mit den Kindern gibt und sich bewusst zu prüfen, was sie ihm bedeuten. Wenn von vornherein klar ist, dass die Kinder als Belastung empfunden werden, die man überhaupt nicht haben will, dann ist es besser, diese Partnerschaft gar nicht erst einzugehen.“